Hallo zusammen,
ich habe Fragen an die unter euch, die sich mit der Polyvagal Theorie (PVT) etwas beschäftigt haben. (Eigentlich müsste sie ja Duo- oder Oligovagal Theorie heissen...)
Mich beschäftigte nun die Frage: warum wird die PVT nach über 25 Jahren immer noch als "Theorie" bezeichnet, wenn sie doch so beliebt und recht verbreitet Anwendung findet? Auf der Suche nach einer Antwort bin ich auf einige Kritikpunkte an den (biologischen, neurologischen) Prämissen der PVT gestoßen. Widersprochen wird u.a. einer evolutionsbiologisch gestaffelten Entwicklung (phylogenetische Hierarchie) von hi. Vagusast, Sympathikus und vo. Vagusast bzw. den Kernen.
Prämisse 1: Neurogene Bradykardie und RSA (respiratorische Sinusarrythmie) werden durch verschiedene Vagusäste vermittelt und müssen nicht gemeinsam reagieren.
Prämisse 2: Die mit der Orientierung verbundene neurogene Bradykardie ist ein phylogenetisches Überbleibsel des Reptilienhirns und wird durch den dorsalen Motorkern vermittelt.
Prämisse 3: Der Entzug des Vagaltonus des Herzens durch Nucleus Ambiguus-Mechanismen ist eine Anpassung von Säugetieren, um Neuheiten in der Umwelt auszuwählen und gleichzeitig die Notwendigkeit zu bewältigen, den Stoffwechsel und die kontinuierliche soziale Kommunikation aufrechtzuerhalten.
Dazu Quellen und Vertiefung:
researchgate.net/project/Exami…es-Polyvagal-suppositions
researchgate.net/post/After_20…the_polyvagal_conjectures
"Durch die Überbetonung der Rolle des Vagusnervs bei der Entscheidung zwischen Starre (Immobilisation) und anderen Angstreaktionen ignoriert die Theorie Jahrzehnte neurowissenschaftlicher Erkenntnisse über die Ursprünge der Erstarrungsreaktion vollständig (siehe Roelofs für eine Übersicht). Während der Vagusnerv zweifellos eine Rolle bei der Übertragung von angstbedingten Signalen zwischen dem Gehirn und dem Rest des Körpers spielt (eine Tatsache, die lange vor dem Auftreten polyvagaler Spekulationen festgestellt wurde), gibt es keine Hinweise darauf, dass er eine Kontrolle hat darüber, ob überhaupt eine Erstarrungsreaktion ausgelöst wird." (Wikipedia)
So weit ich mich informieren konnte, ist die Grundlage der Polyvagal Theorie, also die (Neuro-)Biologie dahinter, bis heute nicht belegbar. Damit ist auch das Modell der hierarchischen Verschaltungsreihenfolge schiwerig, glaube ich. Allerdings finden die Schlussfolgerungen für die Praxis großen Anklang... Vielleicht ist es ein bisschen wie bei einer Matheklausur: das Ergebnis stimmt (zumindest annäherungsweise), aber der Rechenweg ist falsch.
Wenn die PVT wirklich ein nicht fundiertes bzw. falsches neurobiologisches / evolutionsbiologisches Modell als Basis anbietet und sich dadurch keine präzisere Behandlung des VNS über die beiden Äste und deren Versorgungsgebiete ergibt, frage ich mich was darüber hinaus nützlich für die Praxis sein könnte? Denn die Schlussfolgerungen im Allgemeinen, wie z.B. die Abwägung des NS von Sicherheit/Gefahr - soziale Zugewandtheit - Mobilisation(Kampf/Flucht) - Regeneration(Ruhe/Verdauung) - Immobilisation usw. sind unabhängig davon bekannt.
Nun zu meinen Fragen:
Herzliche Grüße,
Peter
---
Wer in Kürze etwas über die PVT erfahren möchte, hier zwei Videos dazu:
Polyvagal Theory Dr Stephen Porges
The Polyvagal Theory: The New Science of Safety and Trauma
ich habe Fragen an die unter euch, die sich mit der Polyvagal Theorie (PVT) etwas beschäftigt haben. (Eigentlich müsste sie ja Duo- oder Oligovagal Theorie heissen...)
Mich beschäftigte nun die Frage: warum wird die PVT nach über 25 Jahren immer noch als "Theorie" bezeichnet, wenn sie doch so beliebt und recht verbreitet Anwendung findet? Auf der Suche nach einer Antwort bin ich auf einige Kritikpunkte an den (biologischen, neurologischen) Prämissen der PVT gestoßen. Widersprochen wird u.a. einer evolutionsbiologisch gestaffelten Entwicklung (phylogenetische Hierarchie) von hi. Vagusast, Sympathikus und vo. Vagusast bzw. den Kernen.
Prämisse 1: Neurogene Bradykardie und RSA (respiratorische Sinusarrythmie) werden durch verschiedene Vagusäste vermittelt und müssen nicht gemeinsam reagieren.
Prämisse 2: Die mit der Orientierung verbundene neurogene Bradykardie ist ein phylogenetisches Überbleibsel des Reptilienhirns und wird durch den dorsalen Motorkern vermittelt.
Prämisse 3: Der Entzug des Vagaltonus des Herzens durch Nucleus Ambiguus-Mechanismen ist eine Anpassung von Säugetieren, um Neuheiten in der Umwelt auszuwählen und gleichzeitig die Notwendigkeit zu bewältigen, den Stoffwechsel und die kontinuierliche soziale Kommunikation aufrechtzuerhalten.
Dazu Quellen und Vertiefung:
researchgate.net/project/Exami…es-Polyvagal-suppositions
researchgate.net/post/After_20…the_polyvagal_conjectures
"Durch die Überbetonung der Rolle des Vagusnervs bei der Entscheidung zwischen Starre (Immobilisation) und anderen Angstreaktionen ignoriert die Theorie Jahrzehnte neurowissenschaftlicher Erkenntnisse über die Ursprünge der Erstarrungsreaktion vollständig (siehe Roelofs für eine Übersicht). Während der Vagusnerv zweifellos eine Rolle bei der Übertragung von angstbedingten Signalen zwischen dem Gehirn und dem Rest des Körpers spielt (eine Tatsache, die lange vor dem Auftreten polyvagaler Spekulationen festgestellt wurde), gibt es keine Hinweise darauf, dass er eine Kontrolle hat darüber, ob überhaupt eine Erstarrungsreaktion ausgelöst wird." (Wikipedia)
So weit ich mich informieren konnte, ist die Grundlage der Polyvagal Theorie, also die (Neuro-)Biologie dahinter, bis heute nicht belegbar. Damit ist auch das Modell der hierarchischen Verschaltungsreihenfolge schiwerig, glaube ich. Allerdings finden die Schlussfolgerungen für die Praxis großen Anklang... Vielleicht ist es ein bisschen wie bei einer Matheklausur: das Ergebnis stimmt (zumindest annäherungsweise), aber der Rechenweg ist falsch.
Wenn die PVT wirklich ein nicht fundiertes bzw. falsches neurobiologisches / evolutionsbiologisches Modell als Basis anbietet und sich dadurch keine präzisere Behandlung des VNS über die beiden Äste und deren Versorgungsgebiete ergibt, frage ich mich was darüber hinaus nützlich für die Praxis sein könnte? Denn die Schlussfolgerungen im Allgemeinen, wie z.B. die Abwägung des NS von Sicherheit/Gefahr - soziale Zugewandtheit - Mobilisation(Kampf/Flucht) - Regeneration(Ruhe/Verdauung) - Immobilisation usw. sind unabhängig davon bekannt.
Nun zu meinen Fragen:
- Welche Kritikpunkte seht ihr an der PVT?
- Ist euch etwas bekannt, das die Prämissen der PVT untermauert?
- Falls ihr die PVT in der Praxis berücksichtigt: was davon wendet ihr an?
- Mögliche ortho-bionomische Techniken sind aus den Büchern über PVT zwar gut abzuleiten, aber sind sie in Bezug auf die strukturelle/anatomische Realität stimmig?
Herzliche Grüße,
Peter
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Wer in Kürze etwas über die PVT erfahren möchte, hier zwei Videos dazu:
Polyvagal Theory Dr Stephen Porges
The Polyvagal Theory: The New Science of Safety and Trauma
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